Auf eigenen Füßen stehen. Frei gehen. Die spektakulärsten Fortschritte von Kindern rund um ihren ersten Geburtstag bescheren ihnen nicht nur körperlich einen Zugewinn, sondern auch seelisch. Ihr Selbstbewusstsein und ihr Drang, auch andere Aufgaben selbstständig zu bewältigen, wachsen sprunghaft. „’leine!“ wird zum Motto des zweiten Lebensjahrs.
Eltern brauchen jetzt viel Geduld. Es dauert eben, wenn Lukas die Suppe „’leine!“ löffeln möchte (und Kind nebst Essplatz anschließend grundgereinigt werden müssen). Und sie müssen ihre Augen überall haben, damit ihr kleiner Schatz Teddys Popo nicht mit Zahncreme pflegt oder Mamas Smartphone auf Stufe 5 toastet. Das Kind so viel wie möglich entdecken und ausprobieren lassen, liebevoll begleiten, ermutigen und nur eingreifen, wenn es sich selbst, andere oder wertvolle Dinge gefährdet: Dieser schöne pädagogische Vorsatz mutet Müttern und Vätern von Einjährigen manche Nervenprobe zu.
Ihr beide
seid das Licht in dieser Welt
Euer Erscheinen macht froh
Eure Nähe macht warm
Eure Liebe macht sehend
Diese Welt braucht Euer Licht
Löscht es nicht aus
Conrad M. Siegers
Nur wenn die Eltern selbst sich mehr Unabhängigkeit von ihrem Nachwuchs erhoffen, entdeckt der plötzlich seine Anhänglichkeit. Eben noch forderte Emma wütend, ihre randvolle Kakaotasse „’leine!“ zu tragen. Aber ein paar Minuten „’leine“ im Kinderzimmer zu spielen, ist wohl zu viel verlangt. Ständig hängt das liebe Kind an Mamas Beinen ... Zum Verzweifeln!
Der scheinbare Widerspruch folgt einer inneren Logik. Zwar streben Einjährige einerseits nach Selbstständigkeit. Andererseits misslingt ihnen noch manches. Dann brauchen sie die Eltern als Rückversicherung. Deshalb suchen sie beim Spielen oft Blick-
kontakt zu ihnen oder holen sich ein paar Streicheleinheiten. Und deshalb klammern sie, wenn sie spüren: Die Eltern sind gerade mit etwas anderem beschäftigt. Ohne Mama und Papa kommen sie vorerst nur aus, wenn andere vertraute Erwachsene deren Rolle übernehmen und / oder wenn sie etwas Spannendes zu tun haben. Im Idealfall: mit anderen Kindern spielen können.
Dann schlägt auch die große Stunde des Lieblingsspielzeugs als Helfer: sei es der Teddy, die Puppe oder das Feuerwehrauto.
Einjährige haben’s schwer. Je weiter sie in der Wohnung herumkommen, desto häufiger gibt’s Ärger mit den Eltern. Im Klo dürfen sie nicht matschen, die Knöpfe der Stereoanlage nicht drücken — ständig heißt es „Nein“. Zum Jammern. Und manchmal muten die Eltern ihnen sogar zu, ganz allein bei einem Babysitter oder in einer Kita zu bleiben!
Gut, dass sie wenigstens den Teddy oder die Puppe haben. Oder das zerschlissene Nuckeltuch. Oder sonst etwas Weiches, das so wunderbar nach Geborgenheit duftet. Von diesen allzeit bereiten Tröstern lassen sich die Kinder entschädigen für die Enttäuschungen, die die Eltern ihnen zumuten. Oder sie lassen ihre Wut an ihnen aus und zausen sie kräftig — anstelle von Mama oder Papa.
Die Psychologen sprechen deshalb von „Übergangsobjekten“, die den Kindern eine Zeit lang als Elternersatz dienen.
Mit ihrer Hilfe lernen Einjährige, Gefühlstiefs aus eigener Kraft zu bewältigen — eine erstaunlich kreative Leistung und ein großer Schritt auf dem Weg zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit!