Luis ist hin und weg. Beim Einkaufen mit Papa hat er die Mandelkekse entdeckt, die er so gern mag. Doch Papa nimmt ihm die Packung ab und stellt sie zurück ins Regal. WARUUUM? Luis umklammert Papas Bein, damit er nicht weitergeht, und greift wieder nach den Keksen. Aber Papa sagt: „Nein, heute nicht.“ Und erntet wütendes Gebrüll.
„Trotzphase“ nennen das die meisten. Weil die Kinder öfter etwas anderes wollen als ihre Eltern (oder die Eltern etwas anderes als ihre Kinder).
Doch hinter Luis’ Protest steckt nicht bloß Wut und schon gar nicht die Absicht, dem Papa etwas aufzuzwingen. Die Emotionen, die da aus ihm herausbrechen, sind so stark, dass Luis sie selbst nicht steuern kann. Und an seinem nächsten Ausbruch zwei Tage später sind die Eltern ganz bestimmt nicht „schuld“. So sehr Luis auch quetscht, der Teddy passt nicht in sein Spielzeugauto!
Auch Josefine erlebt gerade fast täglich, dass die Welt kein Ponyhof ist. Die Schokoreiswaffel, die ihr auf die Erde gefallen ist, darf sie nicht aufheben. Karussellfahren auf Papas Bürostuhl ist verboten, und die lustigen Männchen auf dem Handy will Mama ihr auch nicht zeigen. Zum Heulen!
Luis und Josefine arbeiten gerade an einem wesentlichen Lernprozess. Sie merken: Ich habe andere Vorstellungen davon, was passieren soll, als Mama oder Papa. Ich kann eigene Wünsche fassen und (hoffentlich) auch verwirklichen, kann Einfluss nehmen und selbstwirksam sein. Ein riesiger Schritt für fast Zweijährige, ein Meilenstein: Sie entdecken ihren eigenen Willen. Viele Expertinnen sprechen deshalb heute lieber von der Autonomie – statt von der Trotzphase.
Allerdings bringt dieser Fortschritt auch Unsicherheiten mit sich. Zum einen stellen Luis und Josefine fest, dass sie trotz der gerade entdeckten Eigenständigkeit manchmal nicht ans Ziel kommen. Mit dieser Enttäuschung umzugehen, müssen sie erst lernen.
Ein zweites, für kleine Kinder geradezu bedrohliches Gefühl macht das noch schwerer. Bisher empfanden sie sich und ihre Eltern als Einheit, und das fühlte sich gut an. Jetzt aber sind es oft ausgerechnet die Eltern, die ihrem Willen Grenzen setzen – dieselben Eltern, die sie doch so mögen und brauchen! Hinter Josefines und Luis’ vermeintlichen Trotzanfällen stecken deshalb vor allem Verzweiflung und Ohnmacht. Ihre Gefühle überschwemmen sie förmlich wie eine große Welle. Und dann geht nichts mehr: Weder können sie selbst einen Plan B fassen noch auf (gut gemeinte) „Eingaben“ von außen reagieren. Sie sind schlicht überwältigt von ihren Gefühlen, die sie nicht anders als auf diese „trotzige“ Art und Weise direkt und unmittelbar ausdrücken können.
Gut, wenn Eltern es jetzt schaffen, cool zu bleiben; besonders bei öffentlichen Autonomie-Kämpfchen wie bei Luis’ Ausbruch im Supermarkt fällt das alles andere als leicht. Aber die Kleinen brauchen jetzt Mütter und Väter, die einerseits gelassen und fest bei ihrer Aussage bleiben, gleichzeitig aber durch ihr Verhalten signalisieren:
Heute hatte Anna einen Tobsuchtsanfall auf offener Straße. Sie warf sich hin und brüllte wie am Spieß; kein Zureden half. Passanten blieben stehen, und ich fühlte mich wie die schlimmste Rabenmutter. Alles wegen eines Butterweckchens, das ich ihr verweigert hatte! Anna schrie und schrie. Bis eine fremde Frau mich lächelnd ansprach: „Ein starkes Mädchen haben Sie. Die wird sich gut behaupten im Leben.“ Ein Strom von Dankbarkeit rieselte durch meinen Körper, und Anna vergaß vor Neugier auf die Fremde, weiter zu weinen.
Susanne, 33
Und vor allem:
Diese Haltung können sie einfach ausdrücken, indem sie bei dem Kleinen bleiben (auch, um zu verhindern, dass besonders hitzige Kinder sich vor Wut womöglich selbst verletzen) und mit ihm auf Augenhöhe gehen. Zusätzlich können sie versuchen, ihm gut zuzureden: „Ja, ich verstehe, dass dich das ärgert. Du hattest so Lust auf Eis. Aber wenn es verdreckt ist, kann man es nicht mehr essen.“ Diese Zusammenfassung (nach dem Trotzanfall) hilft vor allem den Eltern selbst, ihr Kind besser zu verstehen und die richtige Fortsetzung zu finden, wenn der Protest endlich verebbt.
Manchmal müssen Eltern und Kinder eben einfach aushalten – die Kleinen ihren Frust, die Großen das Leid und die Wut der Kleinen. Gaffern im Supermarkt können Eltern einstweilen erklären: „Das ist die Autonomiephase, die geht vorbei.“