Wenn wir von draußen hereinkommen, ziehen wir die Straßen- oder Spielplatzschuhe in der Diele aus. Vor dem Essen waschen wir die Hände. Wenn jemand mit Fieber im Bett liegt, hören wir höchstens ganz leise Musik. Oder auch: Mit dem Laufrad fahren Kinder auf dem Bürgersteig. Wir, die Erwachsenen,
haben diese und viele andere Regeln längst als richtig, sinnvoll, nützlich, manchmal sogar lebensnotwendig verinnerlicht. Marie mit ihren knapp zwei Jahren dagegen ist noch nicht so weit. Zwar durchschaut sie schon viele Alltagsabläufe in der Familie; aber sie möchte ihre Dinge auch zunehmend selbst regeln und entwickelt eigene Vorstellungen. Dabei stellt sie öfter mal die Spielregeln der Eltern in Frage. Gestern hat Mama sich doch auch gefreut, als Marie lauthals „St. Martin“ sang und dazu den Takt auf der Trommel schlug!? Vielleicht vergisst sie dabei ja das Fieber!?
Und Marie kann, wie viele Kinder ihres Alters, ihren Willen ganz schön dickköpfig verteidigen. Auf ihre Eltern wirkt das manchmal, als stelle ihre Tochter die Machtfrage: Wer ist stärker, Kind oder Erwachsener? Wer ist der Bestimmer, die Bestimmerin? Tatsächlich geht es aber nicht um Macht, sondern um einen konstruktiven Lernprozess. Und am nachhaltigsten lernen Kinder aus Erfahrungen. Für Maries Eltern heißt das: Sie sind gefordert, ihr Kind die Folgen und Konsequenzen seiner Handlungen erleben zu lassen, ohne dass es dabei
Schaden nimmt und / oder die Eltern-Kind-Beziehung darunter leidet.
Das hilft ihnen dabei:
Klarheit über die eigenen Werte und Ziele. Was ist mir wichtig? Warum? Was soll mein Kind lernen und können, wie soll es sich verhalten?
Verständnis. Was wollen, können sie Marie wirklich zumuten? Wie wichtig sind die Bedürfnisse und Wünsche, deren Erfüllung Marie mal bittend, mal wütend einfordert?
Einfache Erklärungen. „Bleib mit dem Laufrad am Straßenrand stehen und warte, bevor wir die Straße überqueren. Ich habe sonst Angst, dass du unter ein Auto kommst.“
Standfestigkeit. „Nein, heute gibt’s keine Schokoladencreme zum Frühstück. Die gibt’s nur sonntags.“
Maßvolle Forderungen. „Oh je, was für eine Bescherung. Der Kakao ist ja überall. Komm, wir wischen das gemeinsam weg.“
Regelmäßigkeit. „Siehst du, Mama und Papa putzen sich nach dem Abendbrot auch die Zähne – so wie jeden Abend.“
Und nicht zuletzt: Ausnahmen. Denn Kinder akzeptieren Regeln umso bereitwilliger, wenn sie erleben, dass ihre Eltern keine unbeugsamen Macht-Haber sind, sondern die Bedürfnisse der Kleinen ernst nehmen und auch auf ihre „Tagesform“ eingehen. Muss Marie wirklich auf das Eis verzichten, das alle anderen Kinder im Freibad schlecken, nur weil sie mittags die tägliche Portion Süßes schon als Nachtisch hatte?
Überhaupt nicht weiter hilft Eltern dagegen die Vorstellung „Strafe muss sein“. Denn es geht nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein gemeinsames Meistern kritischer Momente. Also darum, den Kindern das Leben zuzumuten, damit sie Schritt für Schritt in das Regelwerk ihrer Familie (und der Gesellschaft) hineinwachsen können.