Pippi Langstrumpf war ein merkwürdiges Mädchen. „Sie war so furchtbar stark, dass es auf der ganzen Welt keinen Polizisten gab, der so stark war wie sie“, beschreibt Astrid Lindgren ihre Titelheldin; seitdem haben alle Mädchen ein Vorbild an Stärke und Selbstbewusstsein.
Und die Jungen? Auch wenn ein männliches Gegenstück zu Pippi (leider? noch?) fehlt, gilt heute als ausgemacht: Jungen dürfen genauso zart und sensibel wie Mädchen stark sein. Zwar streiten Wissenschaftler nach wie vor darüber, ob und wie sehr „typisch“ weibliche oder männliche Verhaltensweisen angeboren oder anerzogen sind. Aber sicher übernehmen Jungen und Mädchen unbewusst Rollenmuster, die in der Familie vorherrschen und in denen Eltern ihre Kinder wahrnehmen.
Schon kurz nach der Geburt beschreiben Eltern ihre Töchter eher als zart und hübsch, ihre Söhne als groß und kräftig. Die Kinder selbst begreifen zuerst nicht, was Jungen und Mädchen unterscheidet. Bis ins dritte Lebensjahr hinein halten es Jungen für möglich, später Mutter zu sein, und Mädchen glauben, durch Verkleidung zum Mann werden zu können. Erst vom dritten, vierten Jahr an lernen die Kinder, sich einem Geschlecht zuzuordnen – und übernehmen oftmals dessen Rollenmuster. Sei es, dass die Mädchen lieber mit Puppen spielen, die Jungen mehr mit Autos. Oder die Jungen eher durch Toben und Raufen auffallen als die Mädchen. Im Kindergarten und auf dem Spielplatz bleiben die einen wie die anderen jetzt öfter „unter sich“ und schließen das andere Geschlecht manchmal sogar aus.
Eltern, die weder ihre Tochter zur braven Puppenmutti noch ihren Sohn zum wilden Rennfahrer erziehen möchten, fühlen sich dadurch oft herausgefordert und versuchen gegenzusteuern. Aber dann zeigt sich schnell: Es reicht nicht, der Tochter auch technisches Spielzeug und dem Sohn eine Puppe in die Hand zu drücken. Denn Kinder sind sehr sensible Beobachter und verfolgen genau, wie die Rollenverteilung in der eigenen Familie aussieht. Kann auch der Papa kochen, putzen und bügeln? Kümmert er sich wie die Mama um die Kinder? Ist sie in der Lage, mit der Bohrmaschine umzugehen? Kicken auch die Mütter mit ihren Söhnen und Töchtern, können die Väter eine Puppe frisieren?
Hanna möchte von der Mauer
springen, aber die Höhe lässt sie
zögern. „Fängst du mich, Papa?“
Ich breite meine Arme aus: „Spring!“ Hanna schaut nach oben in den
Himmel und lässt sich fallen.
Welch grenzenloses Vertrauen!
Markus, 33
Zunächst einmal gilt es für Eltern also, sich ihr eigenes (oft unbewusstes) Verhalten und das Rollenmodell anzuschauen, das sie selbst ihren Kindern vorleben. Auf dieser Grundlage können sie sich dann mit der Übermacht der Spielzeug- und Kleidungsindustrie auseinandersetzen, die Kindern Unmengen von Lillifee-, Hello-Kitty-, Cars- und Bayern-München-Produkten andient und sie so in Geschlechter-Schubladen sperrt. Gutes Durchhaltevermögen, Kreativität und ein wacher Verwandten- und Freundeskreis gehören dazu, um hier öfter mal die Bremsleine zu ziehen.
Eltern können aber auch eine gute Portion Grundgelassenheit wahren, wenn mal kein Weg an dem Rosa-Glitzer-T-Shirt und dem Bob-der-Baumeister-Bagger vorbeiführt. Übertreibungen bei der Zuordnung zu diesem oder jenem Geschlecht kommen bei Kindergarten-Kindern immer wieder vor; sie helfen ihnen, sich der eigenen Identität zu vergewissern. In späteren Jahren, haben Wissenschaftler beobachtet, handhaben dieselben Kinder die Geschlechterrollen genauso offen wie andere.
Das Allerwichtigste bleibt, dass Eltern Mädchen wie Jungen je nach ihrer ganz individuellen Persönlichkeit begleiten. Denn: Jedes Kind ist anders und hat, unabhängig vom Geschlecht, seine eigenen Vorlieben, Stärken und Schwächen. Diese Individualität gilt es vor allen Klischees zu schützen. Dann dürfen Mädchen genau wie Jungs (und Pippi Langstrumpf) auf Bäume klettern und auch mal Kraftausdrücke gebrauchen, und Jungs dürfen genau wie Mädchen sensibel und schüchtern sein.