„Opa, warum hängt der Mann da?“ Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. Während ich in der Fahrradtasche nach den Picknick-Vorräten kramte, hatte mein Enkel Elias sich umgeschaut und das Kruzifix entdeckt, das fromme Menschen im Schatten der vier Bäume mitten in den niederrheinischen Feldern aufgestellt hatten. Der unbekannte Schnitzer hatte sich alle Mühe gegeben, die Schmerzen des Gehängten ins Bild zu setzen. Ganz krumm und verrenkt hing Jesus da; kein Wunder, dass Elias geschockt war.
Hätte die Julisonne mir nicht schon unterwegs beim Strampeln den Schweiß auf die Stirn getrieben, spätestens jetzt wäre er mir ausgebrochen. Wie erkläre ich einem Dreijährigen die Leidensgeschichte des Gottessohns?
„Das Bild soll uns an Jesus erinnern, der vor vielen, vielen Jahren gelebt hat. Er hat den Menschen damals viel Gutes getan und ihnen erklärt, wie sie gut zusammenleben können. Viele Frauen und Männer wurden seine Freunde. Aber die Leute, die damals bestimmten, hat das geärgert; sie waren neidisch auf Jesus. Deshalb haben sie ihn gequält und getötet.“
Ich hielt den Atem an. Den Namen Jesus kannte Elias; „das sind Maria, Josef und Jesus“, hatte er mir am Heiligen Abend an der Krippe in unserem Wohnzimmer erklärt. Würde er die Verbindung herstellen? Dass das Kind, über das alle sich so freuten, so grausam sterben musste? Wie würde das Urvertrauen eines Dreijährigen dieses Wissen verkraften? Müsste ich ihm also erzählen, dass die Geschichte damals ein gutes Ende nahm – und Elias, der vermutlich noch keine Vorstellung vom Tod hatte, mit der Auferstehung endgültig überfordern?
Also hielt ich mich lieber an den Grundsatz, Kinderfragen möglichst kurz zu beantworten und darauf zu vertrauen, dass die Kleinen von sich aus weiterfragen. Tatsächlich beschäftigte Elias schon eine andere Frage:
„Und die Freunde von Jesus? Haben die ihm geholfen?“
„Das konnten sie nicht. Aber sie haben weitererzählt, wie er gelebt und was er gesagt hat, bis heute. Sie heißen Christen. Wir gehören auch dazu.“
„Ich auch? Und Hannah?“
„Ja, denn Mama und Papa haben euch nach der Geburt taufen lassen.“
„Ich weiß, in der Kirche. Hannah hat gar nicht geschrien.“
weil du mich ganz in die Gegenwart holst,
meine Gedanken ganz auf den Moment
und dich verDICHtest.
Ohne Druck, ohne Überreden,
passiert es ganz automatisch und leicht.
Einfach durch dich.
Weil das Grübeln dann nichts bringt,
und all das, was wir wichtig nennen,
sich geradezu lächerlich macht,
vor deinem rotbewangten Lachen.
Darum.
Du!
David Walbelder
Zufrieden langte Elias nach der Dose mit den Trauben, die ich immer noch in der Hand hielt. Und ich atmete auf.
Am Abend sprach ich mit seinen Eltern darüber. Hätte ich ihm mehr (oder weniger) erzählen sollen? Oder etwas anderes? Vielleicht hätten professionelle Theologen eine bessere Antwort gewusst? Sollten seine Eltern ihm jetzt eine Kinderbibel besorgen, die ihm die Passion erzählt und erklärt? Oder in Zukunft Kirchen, Wanderwege und Museen vorab scannen, um ihre Kinder nicht noch einmal derart drastischen Bildern auszusetzen?
Der Gedanke ist abwegig. Eltern können ihre Kinder nicht vor dem Leben schützen, und der Tod gehört dazu. Elias wird das früher oder später erleben – wenn wer auch immer stirbt, den er kennt. Dann erzählt ihm hoffentlich jemand, dass Jesus’ Geschichte am Kreuz nicht zu Ende war und wir noch ein anderes Leben haben.