„Tim und Kevin dürfen das aber!“ Der Satz von Leo sitzt. Mit drei Ausrufezeichen in der Stimme hält seine Mutter dagegen: „Aber bei uns gelten andere Regeln.“ Damit kann sie sich behaupten, aber gut fühlt sie sich nicht dabei. Mama Spielverderberin!
Wenn Kinder bei anderen Familien zu Besuch waren, wird’s für die Eltern hinterher oft anstrengend. Zwar wissen sie, dass es bei anderen Familien einfach deshalb schöner ist als „bei uns“, weil es dort einen Hund oder Kaninchen oder einen größeren Garten zum Toben gibt (und dass die Begeisterung schnell verflogen wäre, wenn die Kinder die Tiere tagtäglich versorgen müssten). Außerdem werden bei vielen Familien die üblichen Regeln gelockert, wenn Kinderbesuch im Haus ist. Und Behauptungen wie „Die dürfen Computer spielen, so lange sie wollen!“ oder „Die kriegen den ganzen Tag Süßigkeiten!“ halten sowieso kaum einer Überprüfung stand.
Trotzdem bleibt es eine Herausforderung: Familien unterscheiden sich in ihren Regeln und Ritualen, in ihrer Art, gemeinsame Zeit zu verbringen und sich Nähe zu zeigen. Bei Familien aus einem anderen Kulturkreis oder mit einer anderen Religion ist das am offensichtlichsten, aber auch die Zahl der Kinder, die Berufstätigkeit der Eltern, ihre finanziellen Möglichkeiten, die persönlichen Vorlieben der Eltern, ihre Herkunft und vieles andere hinterlassen ihre Spuren im Alltag. Und Kinder haben oft einen scharfen Blick für Details und merken schnell: Da ist etwas anders als bei uns! Dass sie die Gewohnheiten der eigenen Familie dann hinterfragen, ist kein Wunder:
Manchmal ist die Antwort ganz einfach: Wenn Papa allergisch auf Katzenhaare reagiert, kommt die Mieze als Mitbewohnerin nicht in Frage. Und wenn Mama samstags oft um 12 Uhr zum Dienst muss, fehlen für einen rituellen Wochenmarkt-Bummel inklusive Frühstück Zeit und Ruhe. Andere Fragen erfordern längere Erklärungen: Warum gehen wir sonntags miteinander in die Kirche? Marc geht dann immer mit seinem Papa schwimmen … Oder sie bringen Eltern sogar in Erklärungsnotstand, weil manches im Familienleben sich nämlich über Jahre eingespielt hat, obwohl eigentlich niemand mehr weiß warum.
Wann immer Elena kränkelte und Trost brauchte, musste ich ihr diese Geschichte vorlesen: Janoschs „Ich mach’ dich gesund, sagte der Bär“. Diesmal war’s andersherum: Ich hatte Kopfschmerzen, fühlte mich für alles zu kaputt, lag auf dem Sofa und versuchte die Welt zu vergessen, während Elena im Kinderzimmer malte. Doch plötzlich weckte mich ihre Stimme aus meinem Dämmerzustand: „Einmal kam der kleine
Tiger aus dem Wald gehumpelt …“
Andreas, 40
So anstrengend es manchmal ist, sich mit den Fragen der Besuchsrückkehrer auseinanderzusetzen: Es ist immer gut und bereichernd, wenn Kinder bei anderen Familien deren anderen Lebensstil kennen lernen. Nicht zuletzt ist es ein wichtiges Lernfeld für Toleranz. Und für die ganze Familie ist es eine Chance: die eigenen Gewohnheiten und Rituale wieder einmal bewusster zu überprüfen, die eigene Familie als einen individuellen Lebensraum mit seinen besonderen Werten und Verbindlichkeiten zu stärken – aber vielleicht auch die eine oder andere Idee von anderen Familien abzugucken. Je offener Eltern mit ihren Kindern über ihr ganz besonderes Familienleben sprechen und nachdenken, Regeln reflektieren und auch verändern, desto eher werden sie eine positive Sicht auf ihr Zuhause entwickeln. Diese Zuversicht wird ihnen auch die kritischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Herkunft in der Pubertät erleichtern: „Das ist meine Familie – ein Schatz für mein Leben.“