Jonas’ Mutter seufzt. Ihr Sohn, gerade mal 9 Jahre alt, ist neuerdings so anders! Er blockiert das Badezimmer, duscht täglich mindestens einmal – aber bitte nur mit einem „for men“ gelabelten Gel! –, stylt seine Haare sorgfältig, um danach „ein bisschen ’rauszugehen“, schaulaufen mit seinem Rollerboard, und hinterlässt als bleibenden Eindruck eine atemberaubende Duftwolke.
Die Irritation von Jonas’ Mutter erleben viele Eltern mit Kindern dieses Alters. Ihre Töchter oder Söhne werden plötzlich launisch, aufmüpfig, albern oder zickig, wehren sich gegen elterliche Fürsorge und finden es peinlich, wenn Freunde sie in Begleitung der Eltern erwischen. Andere verschanzen sich in ihrem Zimmer und / oder hinter Handy, Tablet und PC und sind für den Rest der Familie kaum mehr ansprechbar. Um dann unversehens wieder Kind zu sein und auf ihren Kuscheleinheiten zu bestehen. Wie sollen Väter und Mütter da noch wissen, ob sie ihr Kind überfordern, weil es jetzt gerade „noch klein“ ist, oder im nächsten Moment unterschätzen, weil es „natürlich“ schon selbst klarkommt?
Ist das jetzt schon die Pubertät?
Tatsächlich beobachten Forscher in den Industrienationen eine Verkürzung der Kindheit zugunsten einer verlängerten Jugend. Neben der körperlichen Reifung spielen dabei gesellschaftliche Anforderungen eine treibende Rolle. Wenn beide Eltern berufstätig sind und keine Oma um die Ecke wohnt, müssen Kinder halt schneller unabhängig werden als früher; fürs Kindsein und Spielen bleibt keine Zeit mehr. Und natürlich braucht die Wirtschaft die Noch-nicht- oder Gerade-mal-Teens dringend als Konsumenten. Aber auch wenn sie körperlich heute aufgrund guter Lebensbedingungen vielleicht schneller reifen als früher – für die geistige und seelische Reifung brauchen junge Menschen immer noch viel Zeit, bis sie in unserer komplexen Welt voll verantwortlich auf eigenen Füßen stehen.
Das Gute an der Irritation der Eltern ist: Sie signalisiert, dass sich größere Veränderungen anbahnen, und gibt allen Beteiligten die Möglichkeit, sich allmählich auf den umfassenden Entwicklungs-Prozess einzustellen, der sich gerade anbahnt. Das Bedeutsamste daran ist: Der Fokus der Kinder verschiebt sich nach „draußen“, weg von der Familie, hin zu den Gleichaltrigen. Zusammen und im Vergleich mit ihnen erproben sie sich selbst, ihr Ansehen, ihr Aussehen, ihre Fähig- und Fertigkeiten, suchen Anerkennung und einen guten Platz in ihrem sozialen Umfeld.
Nina fühlt sich jetzt in ihrer Girls Group am wohlsten. Die Mädchen stecken die Köpfe zusammen, tragen die gleichen Klamotten und Frisuren und möchten am liebsten alles zusammen machen. Die Jungen in ihrer Klasse konkurrieren um den Rang des besten Skateboarders, Schwimmers oder des coolsten Gitarristen. Frederik profiliert sich als „King“ der Playstation, Martin begeistert sich für die Jugendfeuerwehr, Fiona zieht’s Tag für Tag zum Kinderbauernhof. Manchmal gewinnen Mütter und Väter darüber den Eindruck, dass ihr Familienleben zerbröselt. Zwischen den Berufen der Eltern, der Schule und den Freizeit-Interessen der Kinder findet sich kaum noch Zeit für gemeinsame Mahlzeiten, geschweige denn für gemeinsame Unternehmungen.
Tatsächlich ändert sich die Rolle der Familie jetzt. Als Bezugspersonen und Orientierungspunkte dienen statt der Eltern zunehmend die Freundinnen und Freunde; Mamas Urteil über das neue T-Shirt zählt nicht mehr, wenn es in der Clique durchfällt. Auch in ernsteren Fragen von der Ernährung bis zur Religion müssen Mütter und Väter sich jetzt öfter von ihren Töchtern und Söhnen in Frage stellen lassen.
Dennoch bleibt die Familie wichtig, nur eben anders. Sie wird gebraucht als Rückhalt, als sicherer Hafen, zu dem das Kind von seinen Ausflügen in die Welt zurückkommen kann mit neuen Erfahrungen und Eindrücken im Gepäck. Und nicht zuletzt auch als Auffangstation, wenn es draußen nicht so läuft wie erhofft.
Jonas’ Eltern haben deshalb den Sonntag ab 17 Uhr zur Familien-Zeit erklärt. Da gibt es keine Verabredungen mit Freunden, keine Computerspiele, und auch das Bügelbrett bleibt im Schrank. Die Familie nimmt sich Zeit füreinander. Manchmal gehen sie Eis essen oder grillen, spielen oder reden über Urlaub, Schule und was sonst gerade so läuft. Auch Jonas gefällt das, und seine Eltern haben am Ende „das Gefühl, mal wieder richtig miteinander im Kontakt und auf dem Laufenden zu sein“.