Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Ihre Schulzeit denken? An Mathe, Deutsch, die Fremdsprachen? Oder Ihr Lieblingsfach? An Ihre Lehrer – die coole Mathelehrerin, die schrullige Sportlehrerin, den Elvis Presley-Fan in Deutsch? Oder vielleicht an Ihre Mitschülerinnen, Klassenfahrten, …
Mir kommen zuallererst die Freundinnen und Freunde in den Sinn, die ich in der Schule gewonnen habe, Streitigkeiten, die geklärt wurden und uns noch fester zusammengeschweißt haben oder an denen ich merkte: Wir entwickeln uns in unterschiedliche Richtungen. Die Schule war für uns immer auch ein Ort, an dem wir uns trafen, spielten, quatschten und stritten. Und ganz ähnlich erlebe ich es jetzt auch bei Sofie.
Meine Tochter geht in die erste Klasse. Anfangs verbrachte sie viel Zeit mit den Kindern, die sie aus dem Kindergarten kannte, doch bald erwachte auch ihre Neugier auf die anderen. Zumal die Klassenlehrerin immer auf eine gezielte Mischung achtete und Zeiten einplante, in denen die Kinder von ihren Erlebnissen erzählen konnten. So lernte Sofie auch die „anderen“ besser kennen, und neue Freundschaften entstanden.
Da ist Mohammed, dessen Familie erst seit kurzem in Deutschland ist. Dann Marie, die mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester in einer Wohnung lebt und sich das Zimmer mit ihrer Schwester teilt. Jedes zweite Wochenende verbringt sie bei ihrem Vater; auch dort war Sofie schon zu Gast. Als sie nach Hause kam, musste sie erst mal sortieren – Marie hat also zwei „Zuhause“, zweimal Spielzeug, aber immer nur einen Elternteil. Sofie war fasziniert …
Und dann gibt es noch Mila. Sie sitzt im Rollstuhl, und Sofie fühlte sich anfangs ein bisschen gehemmt; mit Mila zu spielen, schien ihr doch sehr kompliziert. Wie sollte Mila überhaupt in Sofies Kinderzimmer in der ersten Etage kommen? Das geht bis heute nicht, aber die Mädchen haben andere Wege gefunden.
Alle diese Kinder hätte Sofie ohne die Schule nicht kennen gelernt. Und ich merke, wie Sofie sich durch diese Kontakte verändert. Die Welt mit anderen Augen sieht. Sie stellt sich vor, wie es wäre, im Rollstuhl zu sitzen, mit getrennten Eltern zu leben oder in einer Familie, deren Alltag weithin von einer anderen Kultur geprägt ist. Das fordert auch mich immer wieder heraus, denn mit ihren Fragen und ihren neuen Welterfahrungen kommt Sofie erst einmal zu mir. Spannend! Natürlich gibt es auch Kinder, mit denen Sofie nicht so viel zu tun hat. Aber auch durch sie hat meine Tochter etwas gelernt: Zusammenarbeiten klappt auch, wenn es nicht die beste Freundin ist.Und weiter: Sofie lernt, Verantwortung zu übernehmen. „Ich habe diese Woche Frühstücksdienst“, erzählt sie stolz. Insgeheim muss ich seufzen; zu Hause hält sich ihre Mitarbeit im Haushalt in engen Grenzen. Aber ich verkneife mir diesen Seitenhieb und freue mich lieber, dass Sofie dadurch und durch die positiven Rückmeldungen der Lehrerin spürt, wie wichtig solche Aufgaben und wie wichtig jedes Kind für die Klassengemeinschaft ist. Im nächsten Jahr möchte sie gerne Klassensprecherin werden, sich für ihre Klasse einsetzen und dabeisein, wenn die Klassensprecherinnen mit den Lehrkräften über ihre Ideen für die Schule sprechen.
Kürzlich durfte Sofie wie alle anderen Kinder reihum das Klassenmaskottchen, den Kuscheltierraben Rudi, mit nach Hause bringen. Sie hütete ihn wie einen Augapfel. Stolz wurde Rudi der ganzen Familie präsentiert und kam natürlich auch zum Besuch bei Oma und Opa mit. Selbstbewusst erklärte sie allen: Rudi sei das Maskottchen „ihrer“ Klasse. Genauso stolz trägt Sofie das T-Shirt mit Logo der Schule. Für mich sind das genauso beruhigende Signale wie der Feuereifer, mit der meine Tochter mich zur Backaktion mit der Klasse lotst und sich an der Gestaltung der Außenfassade des Schulgebäudes beteiligt: Offensichtlich fühlt Sofie sich in „ihrer“ Schule wohl, hat dort ein Stück Zuhause gefunden.
Okay, es gibt auch Tage, an denen sie geschafft, genervt oder verärgert aus der Schule kommt. Dann ist irgendwas nicht so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt hat. Dann hat jemand etwas „Doofes“ gesagt oder Sofie konnte sich nicht behaupten. Wir überlegen dann gemeinsam, wie sie in solchen Situationen reagieren, was ihr helfen und wen sie um Hilfe bitten könnte. An anderen Tagen gelingt es ihr, sich in der Gruppe durchzusetzen, ihre Meinung zu vertreten, aber auch Kompromisse einzugehen. Dafür ist die Schule ein gutes Übungsfeld – wo sonst würde sie so viele Gleichaltrige treffen? So viele Kinder mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten, Ideen, Erfahrungen und Verhaltensweisen?
Manchmal bin ich erstaunt, wie verständnisvoll, einfühlsam oder klug Sofie anderen Menschen begegnet, und frage mich, wo sie dieses oder jenes gelernt hat. Irgendwann erfahre ich dann: Es war Thema in der Klasse, und ich bin dankbar, dass die Schule auch zwischenmenschliche Fähigkeiten praktisch einübt. Manchmal erfahre ich aber auch: Sofie hat dieses erstaunliche Verhalten bei Mitschülern abgeschaut oder im Umgang mit ihnen entwickelt. Zwar „lernt“ sie dabei ab und an auch Verhaltensweisen oder Redensarten, die mich ganz und gar nicht erfreuen; auf der anderen Seite finde ich es gut, wenn sie sich ausprobiert und austestet, wie ihr Umfeld reagiert.
Nirgendwo außerhalb der Familie verbringen Kinder mehr Zeit als in der Schule. Die Erfahrungen, die sie dort machen, prägen sie fürs Leben. Und an Sofies Erzählungen merke ich, dass das „Drumherum“ – die anderen Kinder, der Schulweg, der Schulhof … – für sie manchmal sogar wichtiger ist als der Unterricht. Die Schule ist auch für sie ein Ort zum Leben. Das hätte ich seit meiner eigenen Schulzeit beinahe vergessen.
Susanne Berg
ist Mutter von zwei Kindern und arbeitet als Sozialarbeiterin.