Johannes (2) zeigt kein Interesse, mit anderen Kindern zu spielen. In der Krabbelgruppe wehrte er Annäherungsversuche anderer Babys ab und drehte sich mit seinem Spielzeug einfach weg; dabei schaute er so genervt, dass ich als Mutter das Gefühl hatte, ihm mit den Besuchen in der Krabbelgruppe keinen Gefallen zu tun. Anfangs hoffte ich, dass Johannes nur länger brauche, um mit anderen Kindern „warm“ zu werden. Aber auch heute, in der Kita, spielt er am liebsten alleine. Wächst da ein Einzelgänger heran? Hat er vielleicht sogar autistische Züge? Nur bei seinem Cousin Martin (7) ist Johannes wie ausgewechselt, greift dessen Spielideen begeistert auf und will sogar bei Tisch genau dasselbe essen...
Vermutlich ist Johannes von seiner Persönlichkeit her ein introvertiertes Kind. Das heißt, er geht gern seinen eigenen Ideen und Impulsen nach; andere Kinder bringen ihn dabei eher aus dem Konzept. Die vielen Reize, die sie aussenden, empfindet er wahrscheinlich als irritierend und anstrengend und gerät dadurch schneller unter Stress als extravertierte Kinder. Seine Anhänglichkeit zu Martin passt gut in dieses Bild: Martin ist deutlich älter und deshalb vermutlich auch reifer als die Gleichaltrigen in Johannes' Krabbel- oder Kitagruppe. Mit einem solchen Spielgefährten kann er besser an einem Thema „dranbleiben“, solange er Lust darauf hat, und muss nicht befürchten, ständig mit irgendwelchen anderen Aktionen und Ideen überfallen zu werden.
Introvertiertheit ist ein angeborener Persönlichkeitszug, das heißt: Er wächst sich nicht aus und lässt sich auch durch Training, Erfahrung oder Erziehung nicht umkehren. Solche Versuche könnten Johannes eher unglücklich machen! Wahrscheinlich wird er künftig eher eine oder zwei Freundschaften sehr intensiv pflegen statt viele und lieber mit einzelnen Kinder statt in einer Gruppe spielen. Er wird Schnelles und Lautes in seiner Umgebung meiden und immer wieder Nischen suchen, in denen er Ruhe findet.
Eltern empfinden introvertierte Kinder oft als pflegeleicht. Sie brauchen nicht viele Anregungen von außen, um sich zu beschäftigen, weil ihnen meist selbst etwas einfällt. Sie brauchen es sogar, öfter mal in Ruhe gelassen zu werden, und haben nicht das Bedürfnis lange Reden zu halten und viele Worte zu machen. So weit, so gut – die Kehrseite ist allerdings die Gefahr, dass solche Kinder im Alltagstrubel mit ihren Bedürfnissen ungesehen und ungehört bleiben, auch weil sie mehr Zeit als andere Kinder benötigen, ihre Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen. Ihre Eltern und Bezugspersonen brauchen deshalb Geduld und Feinfühligkeit, um ihnen bis zu Ende zuzuhören.
Ihre Sorge um Johannes' „autistische“ Züge kann ich einerseits verstehen. In unserer Gesellschaft zählen „Freunde“ nur in möglichst großer Zahl, ist Selfie-Darstellung groß in Mode und wird jede und jeder argwöhnisch beäugt, die/der nicht im großen Strom mitschwimmt. Andererseits möchte ich Sie ermutigen, sich davon nicht irritieren zu lassen und Johannes in seiner Persönlichkeit zu unterstützen, so wie er ist. Auch „stille Wasser“ können im Leben ihr Glück finden; wir müssen sie nur lassen.